Es liegt inmitten der Havenwelten quasi wie ein Schiff am Kai, hat ganzjährig geöffnet und feiert in diesem Jahr Jubiläum: Vor 20 Jahren eröffnete das Deutsche Auswandererhaus Bremerhaven (DAH). Es eroberte die Museumswelt im Sturm. Und die Besucher das Haus. Preise und Auszeichnungen folgten. Zu Recht. Bereits zwei Mal wurde es baulich wie inhaltlich umfangreich erweitert, doch seine Mission ist geblieben: Es ist Migrationsmuseum, Erlebnismuseum, Familienmuseum. Und immer wieder eine Reise wert. Weil man dort auf außergewöhnliche Reisen gehen kann. Immer wieder.
Bei meinem "ersten Mal" schiffte ich mich mit der mir zufällig zugewiesenen, jedoch realen Auswanderer-Identität der 1897 geborenen Johanna Ostermann für die imaginäre Reise nach Amerika ein. Stand mir ihr an der nächtlichen Kaje in der Menschenmenge und betrachtete ehrfürchtig den Ozeanriesen. Wir erklommen die Gangway und reisten in der 3. Schiffsklasse über den Atlantik. Voller Hoffnung auf ein besseres bzw. ihr neues Leben. Ich war hin und weg. Imaginär wie real.
Denn ich lernte nicht nur Johanna besser kennen und erfuhr allerlei über ihr Aufbrechen und Ankommen. Ich schob mich auch durch beengte Kojen, beneidetet die 1.-Klasse-Passagiere für ihre Möglichkeiten und erlebte, was es für einige auf Ellis Island bedeutete, als ihre die hoffnungsvolle Reise in die neue Welt dort mit einer Rückfahrkarte in die alte Heimat endete.
Ich schaute und lauschte so viel ich wollte, denn im DAH gilt: Alles kann, nichts muss. Mit einer Chipkarte folgt man nicht nur der "eigenen" Auswanderidentität so vielfältig man mag, sondern kann auch an vielen weiteren Hör- und Medienstationen vielen Migrationsgeschichten mehr lauschen. Eingesprochen von über einem Dutzend bekannter Schauspielerinnen und Sprecher wie Hannelore Hoger oder Sky Dumont.
Einige Jahre später ging ich im Auswandererhaus erneut auf große Fahrt ins Ungewisse. Und war wieder restlos begeistert, denn diesmal schlüpfte ich gleich in zwei unterschiedliche Rollen: Im 2012 eröffneten Erweiterungsbau wird nun die Auswanderergeschichte fortgeschrieben. Es geht seither nicht mehr nur um die, die von hier fortgingen, sondern auch um die, die nach Deutschland kamen.
Zunächst folgte ich nun Martha Hüner, die 1923 mit gerade einmal 17 Jahren auswanderte. Wieder suchte ich in der "Galerie der sieben Millionen" nach "mir". Erfuhr mehr über "meine" Herkunft, Träume und Ziel. "Unsere" Überfahrt war einmal mehr an- und aufregend. Die Schiffspassage führt nun wirklich nach Amerika: Nach Ellis Island geht es nämlich jertzt weiter in die legendäre Central Station von New York. Jenem Bahnhof, der für viele das eigentliche Tor nach Amerika war und von wo aus die Auswandererzüge die Neuankömmlinge dorthin brachten, wo sie ihr Glück zu finden hofften.
Eine Tür weiter wechselte ich meine Identität und war auf einmal nicht mehr Aus-, sondern Einwanderin. Ich folgte in einer Ladenpassage anno 1973 einer Vietnamesin, immer auf der Suche nach Originalerinnerungen von ihr. 1963 in Hanoi geboren reiste sie 1981 in die damalige DDR ein. Gleich einer optischen Schnitzeljagd spürte ich ihr vom ersten Arbeitsvertrag über Briefe in die Heimat und anderes mehr nach. Ich war mit ihr aufgebrochen und am Ende im hier und jetzt angekommen. Imaginär wie real.
Als ich vor Kurzem erneut im Wartesaal, der ersten Station des Museumsrundgangs, stand, wusste ich eines ganz genau: Ich würde wieder die Zeit vergessen und erst über drei Stunden später erstaunt in die Gegenwart zurückkehren.
Dass meine Identität, Wilhelmine Withäger, eine junge Frau aus dem Schaumburger Land war, die 1852 in Bremerhaven gen USA einschiffte, hätte treffender nicht sein können. Nur einen Tag zuvor erst hatte ich im Stadtmuseum Obernkirchen mehr darüber erfahren, wie hart das Leben in der einstigen hessischen Grafschaft vor 150 Jahren war. Jetzt erlebte ich, wie aus der Frau eines Taglöhners von dort eine wohlhabende Farmbesitzerin in den Staaten wurde. Ich hatte mich einmal mehr aufgemacht und wurde auch diesmal überrascht. Imaginär wie real.
Denn seit 2021 wird das Thema Einwanderung noch einmal neu erzählt: Im "Saal der Debatten" werden derzeit vier große gesellschaftliche Debatten vorgestellt. Sie entzündeten sich an deutschen Flüchtlingen und Vertriebenen in den frühen 1950er-Jahren, an den Arbeitsverhältnissen der migrantischen Beschäftigten in den 1960er- und 1970er-Jahren, am Asylrecht in den frühen 1990er-Jahren sowie an der sogenannten doppelten Staatsbürgerschaft Ende der 1990er-Jahre. Ich bin mir sicher: Bei diesen Debatten und Darstellung wird es nicht bleiben, längst wurden und werden in der Realität neue Diskussionen geführt.
In den neuen "Salons der Biographien" habe ich einige meiner früheren "Ichs" wiedergefunden, nicht nur Wilhelmine. Dort werden nämlich nun mittels im wahrsten Wortsinn einzigartiger Erinnerungsobjekte die Biographien verschiedenster Eingewanderter vorgestellt; von etlichen, die nach Nord-, Mittel- und Südamerika sowie Australien gingen, und von einigen, die in den letzten 330 Jahren nach Deutschland gekommen sind. Ein berührendes Wiedersehen, das bestätigt: Das Deutsche Auswandererhaus ist immer wieder eine Reise wert. Weil man dort auf außergewöhnliche Reisen gehen kann. Immer wieder.